Geschichten

Die erste Begegnung: Leova

Er sah definitiv besser aus als jeder andere! Leova traute ihren Augen kaum. Keine 100 Schritte von dem Sehenden entfernt hatte sie noch einen Mann entdeckt, den sie auffällig fand. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, der so glatte, ebene Gesichtszüge hatte. Fasziniert schaute sie diesen Menschen mehrere Sekunden lang an, bevor sie sich hastig wegdrehte und hoffte, dass niemand sie beobachtet hatte. Sie wollte sich nicht von albernen Mädchengetue ablenken lassen. Leova hielt nicht viel von solchen Liebesgeschichten. Die einzigen Erfahrungen, die sie bisher in diesem Gebiet gesammelt hatte, waren ihr nicht gut in Erinnerung geblieben – stets war an der Liebe eine gute Freundschaft zerbrochen, und sowohl sie als auch die Jungen waren danach nicht glücklicher als vorher gewesen. Es war nicht so, dass Leova Beziehungen, egal ob freundschaftlicher oder anderer Art, abstoßend fand, aber sie hatte für sich beschlossen, sich nicht mehr von anderen Menschen abhängig zu machen. Sie wollte nicht noch einmal einen guten Freund verlieren. Und die sicherste Methode niemanden zu verlieren war nun mal, erst gar keinen guten Freund zu haben. Und doch ertappte sie sich dabei, wie sie Bewunderung für diesen jungen Mann empfand. Er wirkte vollkommen selbstsicher, doch gleichzeitig ebenso unscheinbar. Bestimmt würde niemand, der ihn zufällig sah, ihn lange im Gedächtnis behalten. Genau das war auch das Ziel des jungen Mannes. Er wollte beobachten, ohne beobachtet zu werden. Er brauchte Informationen. Leova konnte durch ihre Gabe die zielstrebige Neugier des Fremden spüren. Sie durchschaute ihn. Sie sah alle Gefühlsregungen, und sie stellte erleichtert fest, dass er nichts Böses im Sinn hatte. Zumindest für den Moment nicht. Ihr Instinkt warnte sie davor, ihm zu sehr zu vertrauen. Vertrauen. Leova schalt sich innerlich. Sie hatte den Mann vor drei Minuten entdeckt, und zwar wegen seines äußerst bemerkenswerten Aussehen. Seine dunklen Augen und dazu diese feine, glatte Haut auf den Wangen, die trotz der Kälte nicht gerötet waren, zogen sie magisch an. Schnell wandte sie den Kopf ab. Sie kannte den Kerl nicht, und er raubte ihr anscheinend innerhalb von wenigen Minuten ihren klaren analytischen Verstand, der in den letzten Jahren immer wichtiger für sie geworden war. Der Mann hatte vielleicht nichts Böses im Sinn, aber er schadete ihr. Und sie dachte darüber nach, ihm zu vertrauen. Das durfte sie nicht zulassen. Abrupt drehte sie sich um und ging in eine kleine Nebenstraße, von der aus sie den Mann nicht mehr sehen konnte. Dort blieb sie kurz stehen, atmete noch einmal tief durch und entfernte sich dann von dem Platz.

Na los, sag was dazu!